Rechtsanwalt Dr. Michael Kleiber zu Gast am Ca2B

Güterabwägung und Verhältnismäßigkeit: Die Verfassungsbeschwerde aus anwaltlicher Perspektive.

Ein Unterrichtsbesuch


Wir leben in einem Rechtsstaat. Recht stellt regulative Normen zur Bewältigung von gesellschaftlichen Prozessen und individuellen Konflikten bereit: Sei es, dass man ein Auto kauft (Vertragsrecht), gegen einen Bürgergeldbescheid klagt (Verwaltungsrecht) oder wegen eines Diebstahls ins Gefängnis muss (Strafrecht): Recht prägt wesentlich unser Alltagsleben.
Am Campus Zweiter Bildungsweg wird auch das neue Schulfach Recht unterrichtet, in dem die Schülerinnen und Schüler mit juristischen Grundbegriffen, Methoden und Fragestellungen vertraut gemacht werden sollen und lernen, in den drei Rechtsgebieten Öffentliches Recht, Privatrecht und Strafrecht Rechtsfälle zu bearbeiten und dazu kleine Rechtsgutachten zu schreiben.
Der Rechtsunterricht nimmt damit eine wichtige emanzipatorische, allgemein persönlichkeitsbildende und wertevermittelnde Funktion für die politische Bildung ein, indem Verständnis für die Arbeitsweise der Justiz und die Bedeutung eines funktionierenden Rechtsstaates vermittelt wird: Rechtsbildung ist auch Staatsbürgerbildung!
Zu diesem Zweck besuchte Rechtsanwalt Dr. Michael Kleiber am 9. Juni 2023 den Rechtskurs von Herrn Giesel. Im 1. Semester der Studienstufe beschäftigte sich der Kurs u.a. mit der Verfassungsbeschwerde als grundlegendem Bürgerecht bei möglichen Grundrechtsverletzungen. Herr Dr. Kleiber widmete sich diesem Thema mit einem Fachvertrag. In seiner eigenen Berufspraxis hat er auch schon selbst Mandanten beiVerfassungsbeschwerden vertreten.
Nach einer kleinen Einführung in das Verfassungsrecht und die Rolle und Funktion des Bundesverfassungsgerichts in der Staatsorganisation der Bundesrepublik Deutschland wurde das Thema „Verfassungsbeschwerde“ anhand eines aktuellen Falles veranschaulicht.
Im Fall „Renate Künast“ ging es um gegen die Bundestagsabgeordnete gerichtete Hasskommentare bei Facebook, gegen die sich die Politikerin mit einer Verfassungsbeschwerde gewehrt hatte, weil sie sich in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 GG verletzt sah. Dagegen stand das Recht auf Meinungsfreiheit aus Artikel 5 GG für die Facebook-Kommentatoren. Anhand dieses plastischen Beispiels wurde die Schwierigkeit der rechtlichen Entscheidungsfindung deutlich gemacht: Welches Grundrecht wiegt in diesem Fall schwerer? Dies kann nur im Rahmen einer rechtlichen Güterabwägung und mit guten Argumenten ermittelt werden. Letztlich hat sich das Bundesverfassungsgericht 2022 dafür entschieden, der Verfassungsbeschwerde Künasts stattzugeben.
Diese Entscheidung wurde mit den Schülerinnen und Schülern zusammen analysiert und diskutiert, mögliche Alternativen abgewogen und verworfen. Damit wurde ein tiefergehendes Verständnis der Verfassungsbeschwerde sowie ihren Möglichkeiten und Grenzen beim Schutz der Grundrechte für die Schülerinnen und Schüler ermöglicht.